BYZANTINISCHE ZEITSCHRIFT
Unter Mitwirkung
Bibliothekar C. de Boor- Breslau, Prof. J. B. Btiry-Dublin, Prof. Ch. Diehl-
Nancy, Abbe L. Duchesne-Paris, Membre de l’Institut, Hofrat Prof. H.
Gtelzer-Jena, Prof. G. N. Hatzidakis- Athen, Hofrat Prof. V. Jagic-Wien,
Prof. N. Kondakov-Petersburg, Prof. Sp. Lambros-Athen, Prof. E. Legrand-
Paris, Prof. J. Müller-Turin, Prof. J. Psichari-Paris , K. N. Sathas-Venedig,
korr. Mitgl. d. k. bayer. Akad. d. Wiss., G. Schlumberger-Paris, Membre de
rinstitut, Prof. J. Strzygowski-Graz, Rev. H. P. Tozer-Oxford, Gymnasialdir,
M. Treu-Breslau, Prof. Th. Uspenskij-Odessa, Prof. A.Veselovskij-Petersburg
herausgegeben
von
KARL KRÜMBACHER,
A. O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT ZU MÜNCHEN
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
1892
VorwortIndem ich Leser und Mitarbeiter der byzantinischen Zeitschrift
herzlich begrüfse, halte ich es für meine Pflicht, an der Schwelle imseres
Unternehmens über die Entstehung und Absicht desselben einige Aufklärungen
zu geben. Dafs bei der heutigen Überproduktion von wissenschaftlichen
Zeitschriften jeder neue Ankömmling zunächst mit Abneigung
oder Gleichgiltigkeit aufgenommen werde, konnte nicht zweifelhaft sein.
Es bedurfte der lebhaften Anregung eines so erfahrenen und kühl urteilenden
Fachgenossen wie De Boors, dafs ich dem Plane der Begründung
eines Organs für die byzantinischen Studien näher trat, und erst
nach reiflicher Überlegung der wissenschaftlichen und materiellen Voraussetzungen
und nach wiederholter mündlicher Beratung mit zahlreichen
Byzantinisten, zu welcher mir eine im verflossenen Jahre ausgeftihrte
Studienreise Gelegenheit bot, habe ich mich, noch immer
zögernd, zur Verwirklichung des Gedankens entschlossen. Wie sehr
derselbe aber schon in der Luft lag, habe ich aus einem Briefe meines
Freundes Sp. Lambros in Athen entnommen, der mir mitteilte, dafs
er vor längerer Zeit selbst eine Zeitschrift Bv^avtig begründen wollte
und seine Absicht nur aufgab, weil er die materiellen Schwierigkeiten
nicht zu überwinden vermochte. So sehr ich mm auch das Scheitern
seines Planes bedaure, mufs ich doch die Überzeugung aussprechen,
dafs Griechenland als lokale Basis für das Gedeihen und die Wirksamkeit
eines solchen Organs weniger geeignet wäre als „Europa”; wie
ungünstig der griechische Boden solchen Unternehmungen ist, hat die
kurze Lebens- und Leidensgeschichte des von M. Deffner im Jahre 1880
begründeten „Archivs für mittel- und neugriechische Philologie” bewiesen,
das trotz des ins Programm aufgenommenen internationalen imd vielsprachigen
Charakters nach dem Erscheinen des ersten Doppelheftes
entschlafen ist.
Auf aUen Gebieten der philologisch-historischen Wissenschaften hat
sich infolge der intensiven und mannigfaltigen Thätigkeit der letzten
Jahrzehnte eine solche Fülle von Stofe angesammelt, dafs das Aussehen
der alten Fächer völlig verändert worden ist. Die hergebrachten Wissenskomplexe
haben sieh in mehrere Disziplinen gespalten, für deren Gesamtheit
niemand mehr die Verantwortlichkeit zu übernehmen wagt,
und ganz neue Studiengebiete sind hinzugewachsen. Nur auf dem Ungeheuern
Gebiete der griechischen Kultur ist die Einheit bis jetzt
gewahrt geblieben; doch beruhte diese Einheit nicht darauf, dafs die
Gräzisten die gesamte Geschichte der griechischen Sprache und Litteratur
beherrschten, sondern vielmehr auf der willkürlichen Beschränkung,
die sie ihren Studien und ihrem Lehrvortrage auferlegten. Die meisten
gingen wenigstens in ihrer offiziellen Thätigkeit nicht über die klassische
und alexandrinische Epoche hinaus. Die späteren Zeiten blieben dem
Privatstudium überlassen, und auch diese privaten Studien wurden meist
mit Beziehung auf irgend ein anerkanntes Wissensgebiet durchgeführt,
ja oft mit dem Hinweis auf diese Beziehungen förmlich entschuldigt.
Zwar haben diese zerstreuten Bemühungen im Laufe der letzten Jahrzehnte
immer mehr an Umfang und innerem Werte gewonnen; es
fehlte ihnen aber die Idee ihres Zusammenhanges und das Bewufstsein
von ihrer selbständigen Bedeutung. Man kam nicht auf den Gedanken,
das ganze spätgriechische, byzantinische und neugriechische Zeitalter
etwa vom fünften Jahrhundert nach Chr. bis auf den heutigen Tag
als ein selbständiges, unentbehrliches Glied in der Geschichte der
Menschheit zu studieren. Das Bedürfnis nach Herstellung des geschichtlichen
Zusammenhanges, das den Entwickelungsgang der verwandten
Fächer bestimmt hat, schien hier seine Wirkung zu versagen. Diese
auffallende Thatsache läfst sich aus verschiedenen Gründen erklären.
Die Byzantiner und die von ihnen kulturhistorisch abhängigen Völker
sind durch die kirchlichen und politischen Ereignisse von der westeuropäischen
Entwickelung so lange und so gründlich losgetrennt worden,
dafs ihre Nachkommen und Erbfolger sich noch heute nicht zu Europa
rechnen. Der orthodoxe Osten bildet eine Welt für sich, die als ein
eigenartiger, halb gebildeter, halb wilder Staaten- und Völkerkomplex
zwischen dem civilisierten Europa und dem barbarischen Asien liegt.
Dieses vielgestaltige Völkergewirr, das in der Vergangenheit die Schutzmauer
Europas gegen die asiatische Barbarei bildete und für die Zukunft
berufen scheint als Kulturbrücke von Europa nach Asien zu dienen, ist
bis auf die neueste Zeit wenig beachtet und viel verkannt worden.
Das hat auch auf die wissenschaftliche Berücksichtigung der genannten
Völker und ihrer Sprachen und Litteraturen hemmend eingewirkt.
Selbst die slavische Philologie, an deren Bedeutung heute niemand
mehr zweifelt, hatte unter dieser Mifsachtung des Ostens viel zu leiden.
Miklosich hat sein ganzes arbeitsreiches Leben daransetzen müssen,
um die Existenzberechtigung der slavischen Philologie vor aller Welt
zu erhärten, und sein Nachfolger Jagic hat das Zentralorgan für diese
Studien, das Archiv für slavische Philologie, nur mit unsäglicher Mühe
und grofsen Opfern begründen ^nd bis auf den heutigen Tag fortführen
können. Nun ist die ältere und originellere Abteilung des osteuropäischen
Mittelalters noch übrig geblieben, die byzantinische Welt
mit ihren Vorboten und Ausläufern.
Es ist kein leeres Phantom, kein totes Wort, sond
ern eine grofsartige,
feingegliederte, schicksalsreiche Lebensgeschichte, die im byzantinischen
Zeitalter vor uns liegt. Das sprachliche, litterarische imd
künstlerische, das religiöse, soziale und politische Dasein der in das
weite Gefäfs von Byzanz aufgenommenen Völker vom Ausgang des Altertums
bis an die Schwelle der neueren Zeit bildet ein Forschungsgebiet,
das völlig geeignet ist, eine lebensfähige, zukunftsreiche Disziplin auszufüllen,
und es scheint die Zeit gekommen, diese neue Abteilung der
philologisch-historischen Wissenschaften ausdrücklich und offiziell zu konstituieren.
Aus den früheren häufig unklaren und zusammenhangslosen
Bestrebungen, die in irgend einer Weise auf die Erkenntnis des osteuropäischen
Mittelalters gerichtet waren, beginnt tlie Byzantinistik
als neue, selbständige, auf eigener Basis ruhende Wissenschaft sich
herauszubilden. Was sich dabei vollzieht, ist keine durch persönliche
Gründe veranlafste Sezession, sondern die notwendige Folge eines seit
langer Zeit wirkenden wissenschaftlichen Gärungsprozesses. Die Byzantinistik
ist nicht das Erzeugnis einer ungesunden ZerspKtterung,
sondern ein aus früher zersplitterten und daher oft verkümmerten
Teilchen zusammenwachsender neuer Organismus. Die selbständige Bedeutung
dieser Disziplin kann nicht nachdrücklich genug betont werden;
denn nur schwer befreien sich die meisten von dem tief eingewurzelten
Irrtum, dafs alles Byzantinische nur insoweit Beachtimg verdiene, als
es zum klassischen Altertum oder zu irgend einem anderen Fache
aufklärende Beziehungen habe. Wenn wir dieser gemeinhin üblichen
Betrachtungsweise gegenüber die Selbständigkeit der Byzantinistik
mit unbeugsamer Energie hervorheben, so wollen wir nicht
sagen, dafs jede byzantinische Erscheinung sei es in litterarischer oder
künstlerischer, in politischer oder kirchlicher Hinsicht etwas Bedeutendes
darstelle-, für bedeutend aber halten wir jede Erscheinimg dieses Gebietes
als Objekt wissenschaftlicher Forschung, als notwendiges oder
nützliches Glied im Zusammenhang eines Ganzen. Hieraus ergiebt sich
von selbst, dafs die alte und neue Betrachtungsweise byzantinischer
Dinge sich scharf unterscheidet. Wenn z. B. der altklassische Philologe
beim Studium der Florilegienlitteratur gewöhnlich nur auf die aus dem
Altertum stammenden profanen Sentenzen achtete, ist dem Byzantinisten
jedes Florilegium zunächst ein Ausdruck der geistigen Strömung
und Geschmacksrichtung der Zeit, in welcher es aus älteren oder jüngeren
Quellen zusammengestellt wurde; er bedinge also einen groben Fehler,
wenn er eine bestimmte Gruppe von Sentenzen, z. B. die christlichen
beiseite legte. Ein Eustathios gilt, um noch ein Beispiel zu nennen,
dem altklassischen Philologen als trockener Sammler und breiter Scholiast,
dessen Werke ihm nur wegen der in ihnen aufbewahrten alten Goldkörner
beachtenswert scheinen; der Byzantinist sieht in Eustathios
eine an sich hochbedeutende und für die Würdigung des 12. Jahrhunderts
mafsgebende Persönlichkeit; er betrachtet ihn im engsten
Zusammenhange mit den kirchlichen, sozialen, politischen und litterarischen
Bewegimgen seiner Zeit; er studiert in ihm den verdienten Lehrer,
den eifrigen Erhalter und Beschützer der alten Litteratur, den klugen
Politiker, den freimütigen Theologen, den gewandten Redner, den
geistreichen Essayisten. Daher kann er sich völlig aufrichtig für einen
Mann erwärmen, dessen Namen im Jünger der klassischen Philologie
nur die fade und peinliche Vorstellung einer endlosen, auf schlechtem
Löschpapier abgedruckten Scholienmasse zu erwecken pflegt. So wirft
die byzantinistische Betrachtungsweise einen belebenden Sonnenstrahl
auf historische Personen, auf Erzeugnisse der Litteratur und Kunst, auf
Thatsachen der politischen und kirchlichen Geschichte, die dem Fernerstehenden
in gleichgütiges Dunkel gehüllt erscheinen. Neben der selbständigen
Bedeutung der Byzantinistik kommen dann in zweiter Linie
ihre mannigfaltigen Beziehungen zu den übrigen philologischen und
historischen Studiengebieten in Betracht. Wenn man sich somit stets
bewufst bleiben mufs, dafs jedes byzantinische Ding von einem doppelten
Standpunkte aus studiert werden kann, von dem der Byzantinistik und
von dem irgend eines Nachbarfaches, so wird in der Praxis diese doppelte
Betrachtungsweise natürlich häufig verknüpft werden und zusammenfliefsen.
Eine kurze Darlegung der Ziele und Aufgaben der Byzantinistik
und namentlich ihres Verhältnisses zu den verwandten Disziplinen
soll die obigen Darlegungen im einzelnen bestätigen und aufklären.
Die enge Verbindung der mittelgriechischen Sprache und Litteratur
mit dem Altertum ist so offenkundig, dafs nur auf die allgemeine,
von niemand bestrittene Thatsache hingewiesen zu werden braucht. Es
giebt kaum ein Gebiet der alten Philologie, welchem das vertiefte
Studium der Byzantiner nicht irgend einen Nutzen brächte. Der Zusammenhang
mit dem Altertum ist bei den Griechen in sprachlicher,
litterarischer und politischer Hinsicht bis ins 15. Jahrhundert viel mehr
gewahrt geblieben als bei den Abendländern. Die Beziehungen der
Byzantiner zum Altertum sind denn auch in der neueren Fachlitteratur
immer deutlicher zum Ausdruck gekommen, wobei freilich das allzu
entschiedene Verharren auf dem klassischen Standpunkt imd der Mangel
an Vertrautheit mit den in der Sprache und Kultur eingetretenen Wandelungen
zu manchen Mifsgriffen gefiilirt hat. Einen sehr beträchtlichen
Raum haben sich die mittel- und neugriechischen Studien in der
Sprachwissenschaft erobert. Durch die Arbeiten von Mullach, Maurophrydes,
DeflEner, G. Meyer, Foy, Dossios, Hatzidakis, Psichari, Oekonomides
und Thumb ist das Vulgärgriechische als ein sehr wesentlicher
Faktor in der griechischen Sprachgeschichte erwiesen worden, und es
wird seit geraimier Zeit auch in den zusammenfassenden Darstellimgen
der griechischen Grammatik und Etymologie dankbar beigezogen. Der
von Brugmann imd Streitberg herausgegebene „Anzeiger für indogermanische
Sprach- und Altertumskunde” bringt für das Vulgärgriechische
ein eigenes von A. Thmnb besorgtes Referat.
Das wahre Seitenstück der mittel- und neugriecliischen Studien
bildet die romanische Philologie. In der mittelalterlichen Sagenund
Erzälilungslitteratur des Abendlandes spielen die Byzantiner als
Urheber, Vermittler imd Entlehner von Stoffen imd Motiven eine sehr
erhebliche Rolle. Die Erforschung der internationalen Wechselwirkungen
bildet eines der wichtigsten Kapitel der allgemeinen Litteraturgescliichte
des Mittelalters, das nur durch die vereinten Bemühungen der auf
jedem einzelnen Litteraturgebiete Kundigen aufgeklärt werden kann.
Eine zweite Seite, auf welcher die romanische Philologie von der Byzantinistik
neues Licht zu erwarten hat, ist die Sprachgeschichte;
denn die romanischen Sprachen und das Vidgärgriechische haben denselben
Entwickelungsgang durchgemacht, und viele Erscheinungen in
beiden Sprachgruppen können nur durch eine vergleichende Betrachtung
völlig begriffen werden. In der richtigen Erkenntnis dieser engen
Beziehungen hat der Herausgeber des Jahresberichtes für romanische
Philologie, K. VoUmöller, eine eigene, von J. Psichari übernommene
Abteilung eingerichtet, in welcher die auf das Romanische bezüglichen
Arbeiten über mittel- und neugriechische Sprache imd Litteratur besprochen
werden sollen. Besonders eng verknüpft ist mit der Byzantinistik
die rumänische Philologie; denn die Rumänen sind infolge ihrer
geographischen Lage von den Byzantinern so nachhaltig beeinflufst
worden wie die Südslaven.
Noch mehr als die romanische ist die slavische Philol
ogie
Schritt für Schritt auf die Beachtung der byzantinischen Arbeiten hingewiesen.
Weder die Litteratur und Kunst der Südslaven und Russen
noch ihre politische und kirchliche Geschichte kann ohne das ein-
gehendste Studium ihrer geistigen Vorväter, der Byzantiner, verstanden
werden. Der „Grekoslavjanskij mir” ist das Schlagwort für die historischen
und philologischen Bemühungen der Süd- imd Ostslaven geworden,
aus denen schon eine grofse Zahl ernster, methodisch durchgeführter,
aber leider in Westeuropa meist unbekannt gebliebener Arbeiten hervorgegangen
sind. Übrigens mufs bemerkt werden, dafs nicht blofs die
slavische Vergangenheit durch das Studium der Byzantiner aufgehellt
wird, sondern umgekehrt auch das Verständnis des byzantinischen
Wesens durch die Keimtnis der slavischen Formen manche Förderung
erhält. Es entspricht mithin den natürlichen Verhältnissen, dafs zu
den Gelelirten, welche ihre Mitwirkung für die byzantinische Zeitschrift
zugesagt haben, die Russen und übrigen Slaven das gröfste Kontingent
stellten.
Neben den Beziehungen der Byzantinistik zur romanischen und
slavischen Philologie kommt noch der rege geistige Tauschverkehr in
Betracht, welcher die Spätgriechen und Byzantiner mit den mannigfaltigen
Völkern des Orients, mit den Armeniern, Juden, Syrern, Arabern,
Ägyptern, Kopten, Persern und ludern verbindet. Die unter römischer
Herrschaft vereinigte griechische und gräzisierte Völkermasse bildete viele
Jahrhunderte lang das wichtigste Durchgangsgebiet für den geistigen
und materiellen Verkehr zwischen Orient und Occident. Wie schon im
vorliegenden Hefte ein syrischer Chronist behandelt wird, so wird sich
auch in Zukunft voraussichtlich oft Gelegenheit ergeben, orientalische
Erscheinungen zu erörtern, die auf das byzantinische Gebiet Licht
werfen, und andrerseits vom byzantinischen Ufer aus den Blick nach
dem Orient zu richten.
Kein Merkmal unterscheidet das byzantinische Zeitalter schärfer
vom altgriechischen und römischen als der christliche Charakter, und
die originellste Litteraturgattimg dieser Epoche sind die kirchlichen
Werke in Poesie und Prosa. Darin liegt die hohe Bedeutung der
byzantinischen Studien für die Theologie begründet. Nirgends findet
diese Wissenschaft ein so wenig bebautes und so viel versprechendes
Feld als bei den Mittelgriechen; denn infolge der Kirchenspaltung ist
die Litteratur und Geschichte der orthodoxen Kirche im Abendlande
wenig beachtet worden. Man beruhigte sich mit der gläubig hingenommenen
Versicherung, dafs seit Johannes von Damaskus der Lebensgeist
in der griechischen Kirche erloschen sei, und man übertrug die
Abneigimg gegen die Orthodoxie sogar noch auf vorschismatische Jahrhunderte.
Zwar haben sich einzelne Gelehrte mit glücklichem Erfolge
in den Urwald der späteren Dogmatik, Ethik und Mystik gewagt; aber
es mufste selbst die kirchliche Litteraturgattung der Griechen, die in
ästhetischer Hinsicht am höchsten steht, die Kirchenpoesie, vor zwei
Jahrzehnten von dem hochverdienten Kardinal Pitra für das Abendland
förmlich neu entdeckt werden. Neben der Dogmengeschichte und der
liturgischen Poesie enthält besonders das ungeheuere Gebiet der griechischen
Hagiographie mit seineu mannigfachen Beziehungen zur mittelalterJichen
Roman- und Sagenlitteratur eiuen unerschöpflichen Reichtum
interessanter Vorwürfe; und es bedarf noch zahlreicher Textausgaben
und anderer Vorarbeiten, ehe an eine zusammenfassende Darstellung der
Entstehung, Ausbreitung und der inneren Wandlungen dieser Litteraturgattung
gedacht werden kann. Die Grundlinien, nach welchen weitere
Forschungen auf diesem noch sehr unwegsamen Gebiete mit Aussicht
auf Erfolg gefülirt werden können, sind von H. Usener in einigen
musterhaften Arbeiten vorgezeichnet worden.
Die gröfste Beachtimg verdienen die byzantüiischen Studien von
Seiten der Historiker. Für die antike Geschichte haben viele Byzantiner
wegen der von ihnen erhaltenen älteren Quellen hohen Wert;
vöUig selbständige Bedeutimg beanspruchen sie aber für die mittelalterliche
Geschichte des römischen Reiches und seiner Beziehimgen zu
den Nachbarstaaten. Das heutige Griecheugeschlecht ist ohne ein vertieftes
Studium seiner mittelalterlichen Geschichte nicht zu begreifen,
und die idealisierende Auffassung, welche bei der Beurteilung der Neugriechen
von den Perserkriegen unmittelbar aufKönig Otto überzuspringen
pflegte, hat gegenwärtig auch bei den Griechen selbst jeglichen Kredit
verloren. Dafs man in Deutschland von der byzantinischen Geschichte
gewöhnlich nicht mehr kennt als den Namen des Justinian und die
zweimalige Eroberung Konstantinopels durch die Lateiner und die Türken,
ist nur eine weitere Folge der auch für andere Gebiete der Byzantinistik
verhängnisvoll gewordenen Abschliefsimg gegen die Ostwelt.
Durch die imponierenden Werke Gibbons und Finlays hat die mittelalterliche
Geschichte des römischen Reiches in den Idieenkreis der Westeuropäer
Eingang gefunden. Wie wenig aber die Bedeutung derselben
noch heute erkannt ist, lehrt ein Blick in die historischen Schulkompendien,
aus denen der gröfste Teil der Gebildeten sich seine geschichtlichen
Grimdanschauungen erwirbt; während von der französischen,
englischen, italienischen und spanischen Geschichte ziemlich eingehende
Darstellungen und selbst vollständige Regentenreihen gegeben werden,
werden die weiten Zeiträume der byzantinischen Geschichte mit einigen
kurzen imd in ihrer lakonischen Fassung kaum verständlichen Sätzen
abgethau. Hoffentlich tritt hier nun bald eine Besserung ein. Die
politischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte haben unsere Blicke denn
doch etwas mehr nach dem Osten gelenkt, und die welthistorische
Bedeutung der Siebenliügelstadt am Bosporus korumt allmählich auch
den Kurzsichtigsten zum Bewufstsein, seitdem die Seele von Byzanz
neue, muskelstarke, glaubensverwandte Körper belebt, die drohend am
Ostrande von Europa emporwachsen. Wer sich um Völkerpsychologie
bekümmert, beachtet vielleicht die verschiedene Weise, in welcher die
Kulturnationen sich jetzt in die Bearbeitung der byzantinischen Geschichte
geteilt haben. Die Deutschen wie Tafel, Hopf, F. Hirsch,
De Boor, Geizer, Karl Neumann, Seger u. a. haben sich die kritische
Zubereitung des Quellenmaterials und sonstige philologische Kleinarbeit
ausgesucht, die Russen und Franzosen wie Vasiljevskij, Uspenskij, Kondakov,
Rambaud, Diehl, Schlumberger widmen sich vornehmlich der
innern Geschichte, dem Verwaltungs- und Finanzwesen und der Kunstgeschichte,
die Engländer (Gibbon, Finlay, Bury) beschränken sich fast
ausschliefslich auf die zusammenfassende, durch philosophischen, staatsmännischen
Geist belebte Darstellung der Hauptmomente.
Wie die Geschichte so empfängt auch die mittelalterliche Geographie,
Ethnographie und Topographie der Balkanhalbinsel, Westasiens,
Nordafrikas und selbst Südrufslands aus den byzantinischen
Autoren, Inschriften, Bullen und Münzen reiche Aufklärungen, die von
Krause, W. Tomaschek, G. Heyd, H. Geizer u. a. schon in bedeutendem
Umfange verwertet worden sind. Eine orientierende Skizze über die
Bedeutung der Byzantinistik für die Geographie werden wir in einem
der nächsten Hefte bringen.
Über keine Seite des byzantinischen Zeitalters haben bis in die
neueste Zeit so unklare und irrige Vorstellungen geherrscht wie über
die bildende Kunst. Die Anschauungen bewegten sich in Extremen;
während man eine Zeit lang alles mittelalterliche Kunstwesen in Bausch
und Bogen für byzantinisch erklärte, haben Schnaase und Springer die
Hypothese vom byzantinischen Einflufs mit grofser Schärfe bekämp
ft
und die byzantinischen Elemente in der abendländischen Kunst auf
ein Minimum beschränken wollen. Doch gebrach es diesen beiden
Meistern unserer Kunstgeschichte an genügender Kenntnis der byzantinischen
Denkmäler, und die jüngeren Forscher scheinen nun doch
eine Art von Mittelweg einzuschlagen. Das nächste Bedürfnis ist eine
brauchbare Veröffentlichung und Inventarisierung der zerstreuten und
meist schwer zugänglichen Denkmäler, die mit der Erklärung und
stilistisch genealogischen Betrachtung Hand in Hand gehen werden.
Auch hier hat es sich gezeigt, dafs die Teilung der Arbeit zur tieferen
Erkenntnis unumgänglich ist; während die älteren Kunsthistoriker die
byzantinische Kunst nur nebenbei beachteten, haben neuerdings eine
Reihe von Forschern derselben ihre ausschliefsliche oder doch vorwiegende
Aufmerksamkeit zugewendet. Die Arbeiten von Kouclakov, N. Barsov,
Buslaev, Pakrovskij, Dielil, Bayet, Schlumberger, Strzygowski u. a.
lassen ahnen, dafs die Geschichte der byzantinischen Architektur, Plastik
und Malerei mit ihren mannigfaltigen Beziehungen zur orientalischen,
slavischen und abendländischen Kunst sich bald einen recht ansehnlichen
Platz erobern wird. Es ist hocherfreulich, dafs diese Abteilung der
byzantinischen Studien sich demnächst auch der materiellen Unterstützung,
der sie vor allem bedarf, zu erfreuen haben wird. Auf Anregung
des Herrn Th. Homolle sollen künftig bei den Arbeiten der
französischen Schule in Athen auch die byzantinischen Denkmäler ins
Auge gefafst werden, und ein jüngeres Mitglied der Schule ist beauftragt,
sich ausschliefslich dem Studium der byzantinischen Kunst zu
widmen. Ebenso wird das archäologische Institut in Konstantinopel,
dessen Begründung von der k. russischen Regierung seit einiger Zeit
vorbereitet wird, seine Hauptthätigkeit auf dem byzantinischen Boden
suchen. Wenn es nun auch vorerst nicht möglich sein wird, in der
byzantinischen Zeitschrift umfangreiche, von kostspieligen Illustrationen
begleitete Arbeiten zu bringen, so wird sie der byzantinischen Kunst
doch durch kleinere Aufsätze und durch gewissenhafte Berücksichtigung
der einschlägigen Litteratur in der zweiten und dritten Abteilimg zu
dienen suchen.
Am wenigsten Freunde hat in’ Westeuropa bis jetzt die byzantinische
Jurisprudenz gefunden. Es läfst sich zwar nicht leugnen,
dafs für die juridische Dogmatik und Exegetik aus den Basiliken und
aus den Novellen der byzantinischen Kaiser bis jetzt wenig Gewinn
geflossen ist; dagegen ist die Geschichte des byzantinischen
Rechtes, ohne welche weder das türkische noch das heutige griechische
noch die slavischen Rechte verstanden werden können, ein fruchtbares
imd ernster Arbeit würdiges Forschungsgebiet. Wenn dasselbe auch
naturgemäfs den griechischen und slavischen Rechtshistorikern am nächsten
liegt, so ist doch.gerade der Gelehrte, welcher auf diesem von den
meisten ängstlich gemiedenen Gebiete die grofsartigsten, in ihrer bahnbrechenden
Bedeutung bei uns wohl noch nicht genügend gewürdigten
Arbeiten gehefert hat, ein Deutscher, E. Zachariae von Lingenthal.
Im übrigen scheint unter den deutschen Rechtsgelehrten die Kieler
Doktorthese: „lUud Graeca non leguntur^cum verum esse tum proban-
dum, cum res Graecae philologorum sint, Latinae iuris consultorum”
zu fast allgemeiner Anerkennung gelangt zu sein. Noch ausschüefsHcher
als die Jurisprudenz haben die übrigen Fachwissenschaften wie die
Medizin, Chemie, Mathematik und Astronomie im byzantinischen Zeitalter
nur historisches Interesse. Doch mufs bei der geschichtlichen
Darstellung dieser Wissenschaften die byzantinische Litteratur und namentlich
ihre ungedruckten Teile in Zukunft ganz anders herangezogen
werden, als es bis jetzt in den bekannten Werken von Sprengel, Daremberg,
Häser, Cantor, Montucla geschehen ist.
Die Begründung eines Zentralorgans, welches die mannigfaltigen
Bemühungen auf den eben skizzierten Gebieten und namentlich in der
byzantinischen Litteraturgeschichte zusammenfafst, enthält die Mündigkeitserklärung
der Byzantinistik. Sie erhebt sich dadurch äufserlich
wie innerlich zu einem selbständigen Fache; sie trennt sich endgiltig
von den Nachbardisziplinen, in deren Organen sie bis jetzt, selten
freundlich eingeladen und meist nur ungern gesehen, zu Tische gegangen
war. Wenn ihr aber auch eine eigene Heimstätte errichtet
wird, so wollen wir doch in gemeinsamer Anstrengung mit den altbewährten
Zeitschriften der verwandten Disziplinen auf das hohe Ziel
der geschichtlichen Erkenntnis der Menschheit hinstreben. Die byzantinische
Zeitschrift soll das gesamte griechische Geistesleben vom Ausgang
des Altertums bis an die Schwelle der neueren Zeit umfassen, und
zwar soll in der chronologischen Abgrenzung nach oben wie nach
unten einiger Spielraum gewährt und in zweifelhaften Fällen weniger
nach der Jahreszahl als nach dem Inhalt des behandelten Vorwurfes
entschieden werden. Läfst sich ja doch die kirchliche Litteratur der
früheren Jahrhunderte unmöglich* von der späteren Entwickelung losreifsen
und hängen ja auch manche litterarische und geschichtliche
Erscheinungen, die später als 1453 datiert sind, mit Thatsachen der
byzantinischen Ära aufs engste zusammen. Imierhalb des Gebietes,
welches in der Zeitschrift berücksichtigt wird, mufs der Zusammenhang
der Forschung gewahrt bleiben; daher sind aufser der Litteratur und
Sprache auch die Philosophie und Theologie, die äufsere und innere
Geschichte, die Geographie und Etlinographie, die Kunst und ihre
Hilfsfächer, die Jurisprudenz, Medizin imd die übrigen Fachwissenschaften
in den Rahmen des Programms aufgenommen worden.
Jedes Heft wird, wie schon im Prospekt dargelegt worden ist, in
drei Abteilungen gegliedert, von welchen die erste selbständige Artikel,
die zweite eingehende Besprechungen, die dritte eine möglichst vollständige,
von orientierenden Notizen begleitete Bibliographie enthalten
soll. In der ersten Abteilung ist auch auf die Veröffentlichung
wichtiger Texte Bedacht genommen, faüs der Herausgeber gewillt
ist, die Bedeutung und litterarhistorische Stellung des betreffenden
Textes durch eine orientierende Einleitung oder einen Kommentar zu
erläutern. Ohne eine solche Beigabe können byzantinische Inedita, von
denen ja die meisten Handschriftensajnmlungen wimmebi, in unserer
Zeitschrift keinen Platz finden. Die VeröflFentlichung isolierter Texte,
wie sie zuweilen ohne Kenntnis und Verwertung der diplomatischen
Grundlage und ohne Beachtung der einschlägigen Litteratur nach zufälligen
Funden vorgenommen wird, bringt der Wissenschaft wenig
Nutzen, und eine Überschwemmung mit solchen Pulthütern würde die
Zeitschrift bald zu gründe gerichtet haben.
Die wissenschaftliche und materielle Erhaltung der Zeitschrift ist
nur durch die vereinte Teilnahme aller Kulturnationen möglich. Der
internationale Charakter ist daher, sowohl was die Mitarbeiter und
die Verbreitung als auch was die Bibliographie betrifft, ein Hauptpunkt
des Programms. Zwar habe ich im Prospekt erklärt, dafs ich
in der Regel nur Artikel in deutscher und französischer Sprache
zulassen wül; doch wird diese Regel schon in diesem Hefte durchbrochen,
und ich bin für meine Person gern bereit, aufser dem Englischen
und Italienischen auch das Neugriechische zuzulassen,
sobald durch die Zahl der Abonnenten die höheren Kosten des griechischen
Drucksatzes aufgewogen werden.
Der grofsen und folgenschweren Verantwortlichkeit, welche ich mit
der Leitung dieses Organs auf mich nehme, bin ich mir wohl bewufst.
Der Gang und die Methode der byzantinischen Studien wird durch
unsere Zeitschrift
zweifellos in der nächsten Zukunft stark beeinflufst
werden; sie hat demgemäfs neben der rein wissenschaftlichen auch eine
pädagogische Bedeutung — in weit höherem Grade als die Zeitschriften
für Gebiete, welche sich einer ererbten und wohl ausgebildeten Methode
erfreuen. Ich werde daher alles daransetzen, dem Unternehmen einen
streng wissenschaftlichen Charakter zu geben und zu erhalten. Es ist
ja nicht zu leugnen, dafs auf dem byzantinischen und neugriechischen
Forschungsgebiete in dieser Hinsicht viel und schwer gesündigt worden
ist. Man braucht nicht sehr scharfsichtig zu sein, um hier eine erschreckende
Menge von oberflächlichen, unmethodischen, nutzlosen, ja
gänzlich verkehrten Arbeiten zu entdecken. Es war wie ein stillschweigendes
Übereinkommen, dafs die allgemein gütigen Grundsätze
der philologischen Sorgfalt imd Kritik auf byzantinischem Boden ein
überflüssiger Zierat seien: selbst Gelehrte von peinlicher Gewissenhaftigkeit
liefsen sich zu lockerer SchneUfertigkeit hinreifsen, sobald
sie mit Byzantinern zu thun bekamen; man übertrug die ästhetische
und litterarische Geringschätzung dieser Epigonen auch auf ihre wissenschaftliche
Behandlung. Wie sehr diese seltsame Verwirrung der Begriffe
geschadet hat, kann man, um nur ein monumentales Beispiel
zu nennen, am Bonner Corpus Schritt für Schritt nachweisen. Oder
soll ich auf das Gebiet der vulgärgriechischen Sprache hinweisen, wo
noch fast alljährlich irgend ein wissenschaftlicher Wechselbalg sich ans
hellste Tageslicht herauswagen darf! Der noch immer stark verbreitete
Dilettantismus ist nicht zum wenigsten an der Gleichgiltigkeit und
Abneigung schuld, mit welcher so manche ernste Gelehrte unseren
Studien gegenüberstehen. Hoffentlich bleibt die Konstitution der Byzantinistik
als einer selbständigen Disziplin und die Begründung eines
wissenschaftlichen Organs für dieselbe auch in methodischer Hinsicht
nicht ohne wohlthätige Folgen.
Zum Schlufs noch ein Wort über den Titel der Zeitschrift. Manche
möchten vielleicht das Wort „byzantinisch” ganz vermieden wissen;
denn bekanntlich ist dasselbe bis zum Falle des römischen Reiches
niemals in dem Sinne gebraucht worden, welchen wir ihm heute beilegen.
Byzanz hat seinen alten Namen gerade um die Zeit verloren,
in welcher die in der byzantinischen Zeitschrift berücksichtigte Epoche
beginnt. Auch die griechischen Unterthanen des römischen Reiches
nannten sich stets Römer, nie Byzantiner. Doch hat sich die konventionelle
Bezeiclmung „byzantinisch” und „Byzantiner” in allen modernen
Sprachen so fest eingebürgert, dafs es bedenklich wäre an ihr zu
rütteln, zumal da ein genügender Ersatz nicht zu finden ist. Manche
haben auch die Verbindung des Wortes „byzantinisch” mit dem Substantiv
„Zeitschrift” getadelt und „byzantinische Studien” oder „Zeitschrift
für byzantinische Philologie und Geschichte” oder Älmliches
vorgeschlagen. Ich wollte aber das Wort „Studien”, welches als Titel
von periodischen Erscheinungen jetzt meist etwas anderes bezeichnet,
als unsere Zeitschrift sein will, vermeiden und um jeden Preis einen
möglichst kurzen und doch völlig deutlichen Titel bekommen. Unsere
deutsche Sprache ist hinsichtlich solcher Verbindungen ungemein elastisch
und hat “manches derartige aufgenommen, was der strengen grammatischen
Logik widerstrebt; einen ganz analogen Fall bietet z. B. die
deutsch geschriebene „Russische Revue”. Und schliei’slich würde man
die Zeitschrift, so wohlgesetzt auch ihr Titel wäre, doch in der Praxis
kurz als byzantinische Zeitschrift zitieren.München, im März 1892.Karl Krumbacher.