Die Psychologie des Firmianus Lactantius
ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie (1889)
Author: Marbach, Friedrich
Subject: Lactantius, ca. 240-ca. 320
Publisher: Halle a.S. Heynemann’sche Buchdruckerei (F. Beyer)
Language: German
Call number: AFS-5526
Digitizing sponsor: University of Toronto
Book contributor: Robarts – University of Toronto
Collection: robarts; toronto
Es gibt in der Weltgeschichte kaum eine Epoche, die der Wissenschaft noch so viel ungelöste Rätsel darbietet, als die ersten Jahrhunderte unserer christlichen Zeitrechnung. Wie war es möglich, dass die ganze so hoch entwickelte Cultur in einigen Jahrhunderten überwunden werden konnte, und an ihre Stelle das Christentum mit seinen allen antiken Anschauungen widersprechenden Gedanken trat und die Menschheit für sich gewann. Die Menschheit, die über die Mythen und Mysterien der heidnischen Religion spottete, vereinigte sich, um einen bei dem verachtesten Volke als Hochverräter Gekreuzigten anzubeten. Das Gebot der Nächstenliebe ward zu allererst in seinem ganzen Umfange anerkannt, auf die Armen und Verlassenen, ja auf Feinde und Verbrecher ausgedehnt, zu einer Zeit, in der der Unterschied zwischen Herren und Sklaven, unermesslich Reichen und elendem Proletariat am stärksten hervortrat. Das Streben nach einer höhern, bessern Welt und damit in Zusammenhang die Verachtung alles Irdischen ergriff die Herzen der Menschen, obwohl dieselben in jener Zeit ganz besonders im Stande waren, sich alles, was die Erde bietet, zu verschaffen und zu gemessen, und in der That allein dem Genüsse des irdischen Dasein’s zugewandt waren.
Es ist die schwierige Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung nachzuweisen, wie jene Umwandlung sich vollzogen hat, wo in der antiken Welt die Berührungspunkte zu suchen sind, an die die neuen Ueberzeugungen anknüpfen konnten, um in allmählich fortschreitendem Prozess die alten Anschauungen vollkommen umzugestalten. Gewiss war es gerade der Zweifel an jeder religiösen und sittlichen Wahrheit und die hierdurch entstandene Sehnsucht des vereinsamten Gemüts, die die Menschen zur Gemeinschaft im Glauben an Christum führte; gewiss war es vor allem das ungeheure Elend der niederen Massen, das sie das hier auf Erden vermisste Glück in einem bessern Jenseits suchen liess; gewiss war gerade die Uebersättigung und Erschöpfung durch alle Genüsse der Welt ein Hauptgrund dafür, dass Viele dem schroffen Gegensatz hierzu, der Askese und Weltflucht Reiz abgewannen, wie kam es aber, dass das Evangelium, das zunächst nur die Gemütsbedürfnisse so vieler befriedigte, auch die Ergebnisse der alten Wissenschaft in seinen Bereich zog und dieselben, ohne sie zu zerstören, auf Grund der neuen Ueberzeugung umgestaltete?